
Umwege führen auch zum Ziel
Von der Bewohnerin zur angehenden Sozialarbeiterin

Die Institution Obstgarten bietet für Kinder und Jugendliche, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr zuhause wohnen können, sozialpädagogische Wohngruppen an. Es ist eigentlich wie eine WG. Ich habe dort mit sieben weiteren Jugendlichen zusammengewohnt. Jeder hat sein eigenes Zimmer, aber man teilt sich eine grosse Wohnung und wird dabei sozialpädagogisch betreut.

Erinnerst du dich an deinen ersten Tag im Obstgarten?
Ja, ich war sehr nervös. Ich hatte nur eine Tasche dabei und bin in ein leeres Zimmer eingezogen, so dass ich als erstes damit begann, ein paar Bilder aufzuhängen. Nach ein paar Wochen habe ich dann die Pflanze im Badezimmer bemerkt, die ganz verstaubt in einer Ecke stand. Ich nahm sie mit in mein Zimmer, weil da sowieso noch ein bisschen Grün fehlte.
Zuerst ist es niemandem aufgefallen, dann aber schon und es wurde zum Thema beim Abendessen. Ich gab zu, dass ich sie zu mir genommen hatte und das war dann auch für alle ok. Als ich ausgezogen bin, durfte ich die Pflanze sogar mitnehmen. Heute steht sie in meinem Wohnzimmer in meiner eigenen Wohnung. Ich wollte einfach etwas, das mich immer begleitet, auch wenn ich umziehe. Etwas Kontinuierliches, das mir Kraft gibt und das immer da sein wird.
Eher freundschaftlich, aber das kommt natürlich auf die Situation und die Diskussionen an. Schliesslich haben sie die Verantwortung für uns. Aber wir sind sehr miteinander zusammengewachsen.
Meine erste Bezugsperson. Sie kam damals direkt vom Studium und ich war ihre erste Bezugsjugendliche. Mit ihr konnte ich sehr viel reden und wir konnten viel voneinander lernen. Die offene Beziehung, die wir hatten, hat mir sehr geholfen, mich ihr anzuvertrauen.
Es gibt viele. Wenn ich zurückdenke, dann schwelge ich gerne in diesen Erinnerungen. Meine Highlights waren sicher, wenn wir den Freitagabend miteinander verbracht haben oder auch mal zusammen «Versteckis» im Wald spielten. Also nur wir Jugendlichen, ohne Sozialpädagogen.
Das hat für mich erst kurz vor dem Austritt eine Rolle gespielt. Ich war traurig die WG, also mein Zuhause, zu verlassen. Und gleichzeitig war ich auch besorgt, was die Zukunft bringen wird. Ich wusste, ich war jetzt mehr auf mich allein gestellt und musste mich wieder auf etwas Neues und Ungewohntes einlassen.
Die Einzelbetreuung ist auch ein Angebot der Institution Obstgarten. Ich war also immer noch auf dem Areal der WG und bin auch hin und wieder dort vorbeigegangen. Ich habe mich in der Einzelbetreuung sehr allein gefühlt, weil ich es mir gewohnt war, mit anderen zusammenzuwohnen. Ich bin ein eher gesellschaftlicher Mensch.

«Wir haben es schwieriger als andere Jugendliche. Aber das heisst noch lange nicht, dass wir nicht genau das gleiche erreichen können, auch wenn wir einen Umweg gehen müssen.»
Heute stehe ich auf eigenen Beinen. Ich wohne zusammen mit meinem Freund im Kanton Schaffhausen und habe sehr viele Pläne für meine Zukunft.
Ich bin Vizepräsidentin bei einem Jugendparlament im Kanton Zürich und engagiere mich für politische Anliegen von Jugendlichen, die wir an den Kantonsrat weitergeben. Aktuell bin ich auch in der Berufsmaturitätsschule und nach erfolgreichem Abschluss möchte ich nach Sri Lanka und die Kultur dort kennenlernen. Mein Vater kommt von dort, aber ich habe keinen Bezug dazu und würde gerne die Sprache lernen. Vielleicht kann ich sogar eine Stiftung gründen, die sich auch dort für Belange von Jugendlichen einsetzt.
Wir sind viel mit den Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen im Austausch gewesen. Einige davon waren noch im Studium und haben ihr Praktikum bei uns gemacht. Vor meiner Zeit im Obstgarten dachte ich einfach, dass Sozialarbeitende rumsitzen und Kaffee trinken würden. Heute weiss ich, was sie wirklich alles leisten und wie unterschiedliche Arten von sozialer Arbeit es gibt. Das hat mich dazu inspiriert, dass ich auch irgendwann soziale Arbeit studieren und mein Praktikum auch in der WG 22 im Obstgarten absolvieren möchte.
Ich würde ihnen gerne Zuversicht mitgeben und auch Selbstvertrauen. Sie sollen wissen, dass alles gut kommt. Oft macht man sich viel zu viele Sorgen, die man sich eigentlich gar nicht machen müsste. Mir war zuerst auch nicht klar, dass man so viel Unterstützung bekommt, wenn man sich öffnet und sich jemandem anvertraut. Aber man darf und soll die Hilfe beanspruchen, die man braucht oder sich wünscht. Wir haben es schwieriger als andere Jugendliche. Aber das heisst noch lange nicht, dass wir nicht genau das gleiche erreichen können, auch wenn wir einen Umweg gehen müssen.